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OP, Heiratsantrag, GalaabendDas brutal wilde Jahr von Weltmeister Niko Kappel

30.12.2025, 06:43 Uhr Bild-AnjaVon Anja Rau
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Die Qualen seines Ellenbogens hat Niko Kappel ausgehalten - und wird belohnt. (Foto: IMAGO/Beautiful Sports)

Weltmeister, Weltrekordler - doch Niko Kappel denkt gar nicht dran, dass er sich darauf ausruhen könnte. Der kleinwüchsige Kugelstoßer ist ein Getriebener. 2025 machen ihm gleich mehrere Erkrankungen das Leben schwer. Und auch abseits des Sports lässt er sich keine Zeit zur Entspannung: Mit einer eigenen Spendengala sorgt er für viele strahlende Gesichter.

Er sitzt im WM-Vorbereitungstrainingslager in der Türkei. Zweifelt. Und verzweifelt. Niko Kappel hat Schmerzen, nicht irgendwelche, höllische. Er sieht den WM-Titel schon an sich vorbeiziehen. Den Traum, ihn zu verteidigen, platzen. Der rechte Ellenbogen ist schuld. Wie soll er als Rechtshänder damit nur Kugelstoßen können? Die Weiterreise nach Neu-Delhi zur Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten macht wahrscheinlich keinen Sinn, denkt er zwischenzeitlich selbst. Im Training kann der kleinwüchsige Kugelstoßer gerade so zwölf Meter stoßen. Sein eigener Weltrekord liegt bei 15,07 Metern.

All die Qual der Vorwochen, all der Verzicht im Training, die Hudelei mit Ärzten - sie soll sich nicht gelohnt haben? Er wird sich doch operieren lassen, die freien Gelenkskörper entfernen lassen. Nach der WM. Er hat doch das Okay seines Operateurs bekommen, dass er Stoßen kann. Kappel kämpft weiter. Schmerzmittel, "die stärksten Tabletten, die es gibt". Es wird nicht besser. Im Gegenteil, der 30-Jährige reagiert ein bisschen allergisch, an den Fingern hat er offene Hautstellen. Als Kugelstoßer, der sein Arbeitsgerät - die vier Kilo Kugel - in den Sand und Rasen schmeißt. In Indien, wo die Hygienevoraussetzungen doch etwas andere sind. Der Arzt verordnet ihm Cortisonsalbe, nachts liegt er dick eingecremt und bandagiert mit den Händen überm Kopf im Bett.

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Kappel reagiert allergisch auf die Schmerzmittel. (Foto: Niko Kappel)

"Es war schon wild. Es war die härteste Vorbereitung auf einen Höhepunkt, die ich jemals hatte", sagt er rückblickend zu ntv.de. "Ich habe es heruntergespielt. Ich habe es unterschätzt."

Bei WM muss er Stöße auslassen

Aber niemals sollte man Niko Kappel unterschätzen. Und dessen Fähigkeit, im Wettkampf mehr rauszuholen als im Training jemals gehen würde. So steht er 30. September im Stadion von Neu-Delhi - bereit und tatsächlich voller Vorfreude. "Ich war echt motiviert und hatte richtig Lust auf den Wettkampf." Obwohl sein Arm von oben bis unten bandagiert, er eindeutig gehandicapt ist. Komplett strecken kann er ihn aufgrund der Verletzung ohnehin schon nicht. Beim Wuchten der Kugel vom Hals weg kann er nicht über den Schmerz hinausgehen, die Kraft ist deutlich eingeschränkt. Der erste Versuch fliegt auf 12,55 Meter, sofort übernimmt Kappel die Führung. Aber er weiß, das reicht noch nicht. Im zweiten dann 13,34 Meter. "Der war technisch recht gut, da habe ich gemerkt, dass ich leider schon ziemlich nah dran bin an dem, was maximal drin ist."

Das Zittern beginnt - und das Taxieren der Gegner. Sein ärgster Konkurrent, der Usbeke Bobrjon Omonov, der im vergangenen Jahr vor ihm Paralympics-Gold gewann, scheint ebenfalls Probleme zu haben. Auf Bronze-Kurs ist der als neutraler Athlet startende Russe Alaal Sivtsev, der noch nie so weit gestoßen hat. Die weiteren Athleten genauso wenig. Kappel lässt zwei weitere Stöße jenseits der 13 Meter folgen. Versuch fünf und sechs muss er auslassen - und kann sich dann vor Erleichterung auf die Tartanbahn sinken lassen, um kurz darauf in eine Deutschland-Fahne gehüllt zu jubeln. Kappel hat es geschafft. WM-Gold, Titel verteidigt. Das dritte Mal Weltmeister. All die Qualen haben sich gelohnt.

"Richtig emotional" bei seiner eigenen Gala

Also Heimreise, Erholung, Operation? Mitnichten! Kappel hat einen weiteren Höhepunkt geplant. Die Gala "Kleinformat - die Kappel Night", sein Abend, für den er viele Tage von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends fast alles selbst organisiert und bis ins kleinste Detail ausarbeitet. Drei Inklusionsprojekte hatten er und sein Team vorab ausgewählt, die mit Spenden unterstützt werden. 5000 Euro für den Gewinner, jeweils 2500 Euro für Platz zwei und drei sind angedacht. Doch dabei bleibt es nicht. Am Ende des Abends beläuft sich die Spendensumme auf 21.000 Euro. "Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es so kommt", sagt Kappel.

Die Reaktion der Gewinner? Als Niko Kappel am Telefon sagt: "Ich kann dir keine zweieinhalbtausend Euro überweisen, sondern siebentausend", da gibt es kein Halten. "Es war ja schon bei der Gala richtig emotional, aber dann haben sie sich so gefreut, dass ich nochmal richtig zu kämpfen hatte." So kann unter anderem im kommenden Jahr eine Gruppe von organtransplantierten Kindern und Jugendlichen zu den European Transplant Games reisen, nachdem der Ausflug zu den Weltspielen in diesem Jahr in Dresden allen so viel Freude bereitet hatte. Die Finanzierung stand in den Sternen, der "Retter" heißt Niko Kappel.

Zu den Europameisterschaften seines Sports will auch Kappel im kommenden Jahr. Mit "TÜV-geprüftem" Ellenbogen, wie er witzelt. Denn die OP ist gut verlaufen. Fünf freie Gelenkskörper mussten entfernt, Verwachsungen gelöst, der Knorpel geglättet werden. Er kann den Arm endlich wieder komplett strecken und beugen. Die Narben verheilen, das Training nimmt wieder Fahrt auf. Die Pläne sind groß. Obwohl der Waiblinger noch nicht einmal weiß, wann er denn in Bestform sein sollte. Das Datum der EM? Noch nicht terminiert. So war es auch in diesem Jahr mit der WM. "Ich wusste, wann meine Gala stattfindet, bevor ich wusste, wann die WM stattfindet. Das spricht nicht unbedingt für eine Top-Organisation", kritisiert Kappel.

Weiterer Weltrekord ist nur aufgeschoben

Es hält ihn nicht davon ab, zu träumen. Vom ganz großen Stoß. Vom neuen Weltrekord. Denn auch wenn er als Weltmeister aus dieser Saison geht, es reicht ihm nicht. "Im April war ich so gut drauf wie nie zuvor, ich war voller Vorfreude auf die Saison." Im Training stieß er so weit wie nie zuvor und er weiß ja: "Im Wettkampf geht schon immer noch ein bisschen mehr." Doch dann bremsen ihn erst eine Gürtelrose und dann der Ellenbogen aus. Das Wettrennen gegen den eigenen Körper beginnt.

Der Weltrekord - der ist nur aufgeschoben. Er will die Grenze weiter verschieben, so wie er es macht, seit er mit gerade mal 21 Jahren in Rio 2016 Paralympicssieger wurde. Er ist getrieben von der Frage, was wohl seine zukünftigen Nachfolger leisten werden können, wie Experten in 20, 30 Jahren über seine Leistung urteilen: "Ob sie drüber lachen oder ob die sagen 'Huch! Das gab es damals schon? Hat er ganz gut gemacht.'"

Gut gemacht hat er auch in diesem Jahr schon einiges. Weltmeister, Gala-Veranstalter, Wünscheerfüller - und dann gab es da ja auch noch dieses Detail aus dem Sommer: Im August macht er seiner Freundin Leonie einen Heiratsantrag. Bekannt geben die beiden das aber erst nach der WM. Die Hochzeit, sie ist für 2027 angedacht. Am Besten als dann vierfacher Weltmeister und der Mann, der seinen eigenen Weltrekord verbessert hat.

Quelle: ntv.de

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